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Bittere Zeitenwende? Wie eine Deindustrialisierung in Deutschland verhindert werden muss

Von Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie, Vizepräsidentin BDI

Wir haben in Deutschland so viele großartige mittelständische Industrieunternehmen, die den Laden jeden Tag am Laufen halten. Ob Gießereien, Keramik- oder Kunststoffhersteller, Stahl- und Metallverarbeitende Betriebe, Feuerverzinker oder Hersteller von Spezialtextilien. Ohne sie steht jede Baustelle still, gibt es keine neuen Züge, keine neuen E-Autos, keine Windkraftanlage, keine Umweltfilter, keine Medizintextilien, keine Berufsbekleidung; die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. All diese Unternehmen brauchen Energie, damit ihre Maschinen laufen.

Die Kostenexplosion bei den Energiepreisen hat einen Punkt erreicht, der für große Teile der mittelständischen Industrie nicht mehr zu verkraften ist. Wer vergangenes Jahr noch 500.000 Euro für seine Energierechnung bezahlte musste, liegt jetzt bei fünf Millionen Euro für den gleichen Energiebedarf. Das ist so, als ob wir für das Stück Butter jetzt 20 Euro bezahlen müssten. Preissteigerungen bei Gas und Strom von 1000 Prozent und mehr haben die Grenze der Verkraftbaren überschritten. Solche exorbitanten Kosten können wir nicht ansatzweise an unsere Kunden weitergeben, mit der Folge dass Made in Germany sowohl in Deutschland als auch im Export nicht mehr konkurrenzfähig ist. Ja, auch andere Länder in der EU kämpfen mit Superinflation und explodierenden Energiepreisen, doch keines trifft es so sehr ins Mark wie Deutschland. Gas, die Hälfte davon vor dem Krieg aus Russland, sollte unsere Brückentechnologie sein auf dem Weg aus Kohle- und Atomkraft hin zu erneuerbaren Energien aus Sonne, Wind, Wasser und grünem Wasserstoff.

Auf diesem Weg hat uns der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine brutal ausgebremst. Es ist für mich keine Frage, dass wir uns mit den Sanktionen ganz klar gegen Präsident Putin und auf die Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer stellen. Das kann und darf aber nicht bedeuten, dass Energie in unserem Land nicht mehr bezahlbar ist und Industriebetriebe deshalb schließen müssen.

Es ist keine Übertreibung, dass die jetzige Energiepreissituation unzählige Unternehmen zum Aufgeben zwingen wird mit irreversiblen Folgen für die Lieferketten, die Wertschöpfung und die Arbeitsplätze in unserem Land. Schon jetzt müssen gesunde Unternehmen mit vollen Auftragsbüchern ihre Produktion herunterfahren, weil der laufende Betrieb aufgrund der astronomischen Energiekosten zu massiven Verlusten führt. Dabei ist unsere Industrie gerade jetzt gefragt! Wir brauchen eine leistungsfähige Industrie, um Deutschland klimaneutral zu machen. Wir wollen zeigen, was wir können und was möglich ist.

Vor 25 Jahren habe ich mehrere Textilunternehmen in Sachsen von der Treuhand gekauft, sie weiterentwickelt und das Geschäft auf mehrere Standorte in Europa ausgebaut. Dabei sind Klimaschutz und Nachhaltigkeit für mich ein Ansporn für neue Produkte und neue Geschäftsmodelle. Das Ziel der Klimaneutralität treibt mich an, weil ich überzeugt bin, dass wir als mittelständische Industrie mit innovativen Verfahren und Produkten Gewinner und nicht Verlierer der industriellen Transformation sein werden.

Dafür braucht es aber grundlegende Reformen, eine Agenda, die klare Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Klima- und Energiewende gibt. Anfangen kann die Bundesregierung aber mit ganz einfachen Änderungen, mit denen wir Geschwindigkeit in die Energiewende bekommen. Wir müssen Tempo machen, damit wir nicht abgehängt werden.

Wir brauchen eine Verschlankung der Genehmigungsverfahren, damit die Energiewende in unserem Land endlich in großen Schritten voran gehen kann. Wir brauchen neue Solar- und Windkraftanlagen, neue Netze, neue Trassen und grünen Wasserstoff in großem Stil.  All das brauchen wir jetzt und zwar schnell. Wir brauchen genau das, was sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben hat: Fortschritt! Und zwar nicht den Fortschritt, der eine Schnecke ist.

Für Unternehmen, die auf andere Energieträger wie Flüssig-Gas umsteigen wollen, hat die Bundesregierung in Aussicht gestellt, dass sie Bürokratie vereinfachen will. Wir sagen: Ja, gut so, mehr davon und zwar jetzt!

Pragmatismus ist gefragt! Auch was die Verstromung von Kohle und die Verlängerung der Laufzeiten der drei noch am Netz befindlichen AKW angeht. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um pragmatische Übergangslösungen in einer schweren Krise. Und es geht um die Frage, ob wir nicht auch das eigene Gas im Land fördern sollten. Die Diskussionen darüber müssen ideologiefrei sein.

Auch eine Abkopplung des Strompreises vom Gaspreis würde eine Entschärfung des Strompreises bringen oder gleich ein Industriestrompreis angesichts der Krisenlage, so wie ihn Olaf Scholz als Kanzlerkandidat im Juni 2021 beim Tag der Deutschen Industrie vorschlagen hat.

Ja, ich weiß, das sind alles schwierige Vorschläge, weil sie nicht so einfach umzusetzen sind. Aber was ist schon einfach in diesen Tagen. Wir sind mitten in einer Zeitenwende, wie sie Bundeskanzler Scholz treffend beschrieben hat.

Neue Zeiten verlangen neue Antworten. Die brauchen wir jetzt an einem Punkt, an dem Zigtausende mittelständische Industrieunternehmen die nüchterne Bilanz ziehen müssen, dass sie bei diesen Energiepreisen nicht mehr in Deutschland produzieren können.

Herr Bundeskanzler, Herr Vizekanzler, Herr Finanzminister: Raufen Sie sich jetzt zusammen und legen Sie eine Agenda 2030 für die Klimawende unter neuen Vorzeichen vor. Reißen Sie alles ein, was kompliziert und zeitraubend ist. Eins haben wir nämlich alle nicht mehr: Zeit! Dafür aber jede Menge Innovationen Made in Germany. Das ist ihre, das ist unsere Chance! Bleibt es bei den jetzigen absurden Energiepreisen und Umlagen und Zusatzbelastungen, die in dieser Höhe nur wir in Deutschland als mittelständische Industrie zu schultern haben, erleben wir, wie ein mittelständisches Industrieunternehmen nach dem anderen in den kommenden Wochen aufgeben muss. Das reißt irreversible Lücken in unsere Lieferketten und zwar dauerhaft. Stück für Stück wird eine Deindustrialisierung in Deutschland dann Realität. Das wäre eine bittere Zeitenwende, die auf jeden Fall verhindert werden muss!

Quelle: textil+mode